Der zweite Friedrich
Eine kurze Geschichte
Missmutig, schwer, schon jetzt, nach nur drei Stufen, erschöpft, wankte Friedrich die endlosen hellen Treppen des Weinbergs zu Füßen des im gleißenden Sonnenlicht daliegenden Schlösschens Sanssouci hinauf. Schon auf dem zweiten Absatz zog er sein altes, an den Rändern zerfasertes, von der Zeit graues Tüchlein heraus, wischte sich die schweißnasse Stirne, schnäuzte hinein, wischte erneut den Schweiß fort, gab es auf, steckte es wieder ein, dreimal die weite Rocktasche verfehlend.
Die Augen zusammenkneifend blinzelte er das nicht enden wollende, so alt vertraute lange Band der Stufen hinauf, als wolle er ungläubig nachzählen, ob es über Nacht nicht wieder ein paar mehr geworden wären.
Die Hitze.
Von Jahr zu Jahr wurde er ärger, der August. Heißer und trockener. Überhaupt, die Hitze, wie er die hasste, sie nahm einem alle Kraft. Da war man schon morgens müde. Da brummte einem noch der Schädel von der schwülen Glut der Nacht und den Myriaden von Blutsaugern und hurtig ging es weiter mit der Hitze des neuen Tages, die Nerven zerrieben im immer gleichen Abaluf. Wie in einer Schmiede, den Kopf zwischen Hammer und Amboss.
Und dann die Gewitter, die Schwüle davor, wenn der Schweiß einem in jede Ritze lief.
Gott, wie er die Schwüle hasste. Wie er seinen Schweiß hasste, der anders roch und schmeckte als der des jungen, starken Mannes, der er vor fünfzig Jahren gewesen war.
Und der Winter? Nein, die Kälte war keinen Deut besser, zog ihm die ausgelaugten Knochen zusammen, dass sie nur so krachten. Verfluchtes Eis. Ausrutschen, sich langlegen, die Hüfte brechen, ein Krüppel für den Rest der wenigen Tage, die ihm noch blieben. Und der endlose Schnee, grell, blind konnte man davon werden. Ein Wunder, daß der ewige Schnitter ihn nicht längs mit Hilfe einer satten Grippe mit Fieber gewürzt weggeholt hatte.
Und der Herbst. All diese Arbeit mit den abgeblühten Blumen, die Berge von Blättern, die der Wind überall hin verteilte. Diese Unordnung. Ihn schauderte, wenn er an den Wind dachte, der eisig und klamm über die Terrassen sauste, als wolle er ihm das wenige, dürre Fleisch von Rippen reißen. Nein, der Herbst, das war nicht seins.
Der Frühling, ja, das war die richtige Jahreszeit. Da liess es sich trefflich leben. Da spürte er das Leben wiederkehren, einen Hauch der alten Leidenschaft, die Kraft.
Da wurde der Körper gerader, der Gang aufrechter. Alles ging leichter von der Hand. Der Duft der Blüten, das satte Summen der wieder erwachten Bienen, die dünneren Gewänder der Weiber, das Balzen der Pfauen, die Rückkehr der Vögel, die sogar einem Alten wie ihm die Sinne verwirren konnten. Das frische, helle Grün, überall, überschäumend, kraftvoll, in den ersten warmen Strahlen der Sonne sich ahlend.
Und inmitten all des neuen Lebens er, ein Lächeln um die Lippen, wenn er an all die schönen Momente dachte, die er in seinem Dasein erlebt, genossen hatte.
Ja, ach ja, der Frühling.
Er blieb auf halber Treppe stehen, keuchte, die Lunge mochte nicht mehr so recht.
Frühling, ja.
Obwohl. Viel Regen gab es da schon. Da schmerzten die alten Wunden, als wären sie gerade frisch geschlagen. Das Ziehen in den Narben. Das hatte er beinahe vergessen. Er mochte keinen Regen. Zu nass, zu kalt. Nein.
Und die Blüten? Der Blumen, der Bäume? Die ließen einem die Nase schwellen, einen niesen, den Hals zuschnüren, bis einem fast die Luft wegblieb.
Nein, wirklich, er mochte auch den Frühling nicht.
Vor allem aber mochte er es nicht vierundsiebzig Jahre alt zu sein. Vierundsiebzig mal Frühling, vierundsiebzig mal Sommer und bald nun ein weiteres Mal wieder Herbst und wieder Winter. Da konnte man schon mürrisch werden. Vierundsiebzig Jahre, jeder anständige Mensch war da schon lange tot. Siebzig, das hätte ihm völlig gereicht, das war doch ein anständiges Alter um erhobenen Hauptes abzutreten und einem jeden als ein Mensch in Erinnerung zu bleiben, der niemandes Hilfe nötig gehabt hatte. Am Ende würde er sich noch jemanden suchen müssen, die ihm ins Geheime Gemach half, bevor seine speckigen Hosen alles abbekamen. Und einen, der ihn morgens überhaupt aus dem Bett hinaus und in diese Hosen hinein brachte.
Sechzig Jahre, ja, die hätten eigentlich auch gereicht, da hatte er sogar noch das eine oder andere braune Haar gehabt. Sechzig, ja, da wäre gut gewesen.
Nein. Er wackelte nachdenklich mit dem Kopf. Sich einfach so davon stehlen, das war nicht recht. Da musste man schon solange auf Erden verharren, wie es der Herrgott für einen vorgesehen hatte. Wenn es den denn überhaupt gab.
Weiter, Friedrich, weiter, feuerte er sich selbst an, ohne Elan.
Auf der dritten Terrasse wandte er sich wie jeden Tag um, blickte hinunter, liess seinen Blick die kleine Allee aus gestutzten Buchen entlang über das große Rondell am Fuß der Treppe schweifen. Die Fontäne in der Mitte war nicht in Betrieb, schon lange nicht mehr. Besser war das, es war peinlich was für ein kleines Rinnsal da herauskam, wenn sie denn überhaupt einmal funktionierte. Der Mann, der sich das erdacht hatte, war schon lange tot, mit vierundfünfzig an Typhus eingegangen, wie ein Hund verreckt. Ein dummer Tod, aber immerhin, der hatte es hinter sich.
Schrecklich gequält hatte der sich, die ganze Lunge ausgespien.
Etwas schöner durfte sein Tod schon sein. Einschlafen, nicht wieder aufwachen.
Das wäre angemessen für einen alten Soldaten wie ihn, der so viele Schlachten geschlagen und überlebt hatte, am Ende doch nur recht und billig.
Wie von selbst fuhr seine Hand zum Tuch in der Tasche hin, dann wieder zurück, hatte ja doch keinen Sinn, sollte der Schweiß ihm doch bis in die Schuhe laufen.
Das es aber auch so lange dauern musste mit dem Sterben. Er hatte alles getan, was es zu tun gegeben hatte, hatte gedient, wie nur einer dienen konnte. Hatte alles richten geholfen. Hatte alle verloren, die um ihn gewesen waren, seine Frau, seine Kinder, er war der letzte. Nein, es war nicht rechtens, dass er nach den langen Jahren der Kriege und Entbehrungen, wohl auch der schönen Zeiten der rauschenden Feste für die Königinmutter, immer noch hier in den Gärten herumhumpelte, sinnlos, wertlos, überflüssig wie ein Kropf, ein lebender Anachronismus.
Nein, es war genug. Er hasste es, hatte es satt, sich jeden Tag diese verfluchten Stufen zur obersten Terrasse hinaufquälen zu müssen nur um dann den Rest des langen Tages auf einer Bank sitzend erschöpft im Halbdämmer zu überstehen, auf den nächsten Tag wartend, hoffend, es möge der letzte sein. Er war so müde. Wie gerne würde er endlich, endlich heimgehen ins Nichts und seinen Frieden finden.
„He, Kerl!“.
Der Angesprochene zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb.
Friedrich verdrückte sich ein Lächeln, so war es recht. Missbilligend schüttelte er seinen Kopf, dass der Dreispitz bedenklich schwankte, ihm fast vom Kopf fiel und schief zu sitzen kam. Er schürzte die Lippen und zischte. Tss, tss.
Der Heinrich, wie jeden Tag. Wer auch sonst. Die Jungen wurden immer lausiger, immer fauler. War schon zu lange kein Krieg mehr gewesen. Der Bursche hatte träge auf seinem Rechen lehnend ein Nickerchen gehalten. Wenn Heinrichs Vater nicht so ein guter Kamerad gewesen wäre. Der war in Kunersdorf geblieben. Ein schlimmer Tag, ein böser Tag war das gewesen, die schlimmste aller Niederlagen. Die Österreicher und die Russen hatten sie vor sich hergetrieben wie die Hasen. Alles war aus gewesen, die Armee verloren und Preußen am Ende. Ein Wunder hatte sie alle gerettet. Die Sieger hatten keinen Nutzen aus ihrem Triumph gezogen hatten und sich stattdessen zurückgezogen. Glück brauchte man auch im Kriege.
Dem Karl, Heinrichs Vater, hatte das nichts mehr geholfen, der hatte brav in der ersten Linie des ersten Batallions Garde gestanden, bis ihm eine Salve der Österreicher den halben Kopf wegschossen hatte. Nur so viel Zeit war noch gewesen, dass er dem Sterbenden hatte versprechen müssen, sich seines Sohnes anzunehmen, damit der nicht auf die schiefe Bahn geriete. Da war Heinrich gerade einmal ein Jahr alt gewesen.
Gott, siebenundzwanzig Jahre war das alles her und doch noch frisch wie am ersten Tag. Beinahe jede Nacht kamen ihm die Erinnerungen hoch, der Krach der Geschütze, das Stakkato der Musketen, das Klirren von Metall, die Schreie der Getroffenen. Die gefallenen Pferde, deren anklagendes Stöhnen, das war das Schlimmste.
Ohne es zu merken, suchte er sich die Ohren zuzuhalten.
Es waren wohl ein paar Schlachten zu viel für ein schlichtes Vergessen gewesen. Elf an der Zahl, acht gewonnene, drei verlorene, aber jede davon ein Albtraum für sich.
„Schau, dass du was tut für deinen Lohn, du Gauner“.
Eifrig nickte der Kerl, dienerte wie es nicht mehr besser ging.
Friedrich ärgerte sich, er war zu lau im Ton gewesen, zu weich. Die Stimme hatte an Schärfe eingebüßt im Laufe der Jahre. Morgen würde der noch dreister werden und sich sogar hinter die Weinstöcke legen, wo er ihn mit seinen trüben Augen womöglich nicht einmal mehr sehen könnte. Die Brille half nicht mehr so recht, wollte auch nie gerade auf seiner spitzen Nase sitzen bleiben.
Irgendwie war alles aus dem Lot, nichts mehr so, wie es einmal gewesen war, in der guten alten Zeit, als die Jungen noch Respekt gehabt hatten vor den Alten.
Schwer stützte er sich auf seinen schlichten Stock, ein wenig schwindelig.
Rasch straffte er sich wieder, das wäre noch schöner, wenn der Bursche ihn so schwach sähe.
Heinrichs Frau Marga hatte gerade ihr viertes Kind bekommen, ein Mädchen, Charlotte. Kinder machen, das konnte er, der Saukerl. Gut für Preußen, jede Hand wurde gebraucht. Da war er nun also zum dritten Mal Pate geworden. Schön.
Die Familie würde Hunger leiden, wenn Heinrich nicht seine gute Arbeit bei den Schlossgärtnern behielte.
Friedrich grinste in sich hinein.
Selten hatte er ein solch hübsches Kind gesehen. Lachen konnte die zum Stein erweichen. Nur dem Heinrich sah das Kindlein so gar nicht ähnlich und die Marga schien gerade dieses irgendwie mehr zu lieben als die anderen drei, die dem Heinrich wie aus dem Gesicht geschnitten waren.
Ach, was ging es ihn überhaupt an. Sollte doch jeder tun, was er wollte, was ihn glücklich machte. Schließlich lebte man in Preußen und nicht im Kirchenstaat.
Missmutig fixierte er die verhassten Stufen. Morgen würde er seitlich hinaufsteigen, schwor er sich. Wie seit Jahren schon.
Schwerfällig stieg er weiter hinauf, der Stock in seiner Linken behinderte ihn mehr, als dass er half. Jedes Aufsetzen auf dem Boden quittierten seine gichtigen Finger mit Schmerzen. Pflicht, Friedrich, Pflicht und Arbeit. Das half gegen die Angst vor dem Leben und den Schmerz in den Knochen. Ein wenig.
Auf der vierten Terrasse angekommen musste er wieder stehen bleiben. Diese Treppen. Da stimmten für einen ausgewachsenen Mann die Maße doch nicht. Zu flach waren die, dafür viel zu tief. Das strengte mehr an als jedes noch so enge Stiegenhaus in einem engen Hinterhaus in Berlin.
Gottverdammte Architekten. Schönheit, ja, Bequemlichkeit, nein.
Wie hatte der Kerl denn gleich noch geheißen? Ein kleiner, schwarzhaariger Mann. Franzose. Nein, Italiener. Ein Weiberheld wie aus dem Bilderbuch. Keine Köchin, keine Magd, der der nicht beigelegen war, der Saukerl. Wie hatte der denn noch geheißen, irgendwas mit A am Anfang, oder L. Ach, egal. Da waren so viele gekommen und gegangen.
Früher. Früher war das so gewesen, ja. Seit einigen Jahren kam niemand mehr.
Die Sonne brannte immer erbarmungsloser vom Himmel herunter und der Schweiß war zu einem steten Rinnsal angeschwollen. Das Tuch war durchnässt, warum nur hatte er kein zweites mitgenommen. Es war erst halb neun Uhr Morgens. Wie sollte es da erst des Mittags werden. Er sehnte sich nach Schatten, nach Kühle, nach einem erfrischenden Wind. Einem Schluck kalten Wassers. Nach seiner Jugend.
Sein Atem ging flach, sein Herz hämmerte ihm gegen die Rippen. Sein Blick geriet ihm unscharf, da war wieder dieses Flimmern, wie Sterne.
Vielleicht wäre es doch besser den schweren, dunkelblauen Rock auszuziehen und nur im Leinenhemd und Weste? Nur dieses eine Mal. dem August geschuldet.
Da sei Gott vor! Diese Blöße mochten sich andere geben, er nicht. Das wäre ein Mangel an Disziplin. Das Halstuch ein wenig lockern, so viel mochte wohl gehen. Schon schoss seine Rechte zu seinem Kragen herauf. Die Finger machten sich krumm, dann sank der Arm wieder herab.
Nein. Besser nicht. Es würde auch so gehen.
Die drei Gärtner auf dieser Terrasse hatten ihn kommen hören. Seit langem schon konnten sie ihn sehr gut und von weitem hören. Das laute Rasseln seines Atems war zum Gegenstand vieler abendlicher Darbietungen im Schwarzen Adler drinnen in Potsdam geworden. Und Gegenstand eines Ratespiels, dessen Antwort jeder kannte.
Wer macht so? KrrrrrrrschhhKrrrrrrrsch. Friedrich.
Friedrich wusste schon seit langem darum. Er konnte damit leben. Nur dass er die Faulenzer nicht mehr überraschen konnte, wie früher, das wurmte ihn schwer.
Sieh nur, Herrgott, wie unschuldig lächelnd die alle dastanden. Keiner Fliege konnte die etwas zu Leide tun. Ha! Allesamt hatten die doch Dreck am Stecken, stahlen Werkzeug und Blumen, Obst, Gemüse. Brot und Fleisch aus der Schlossküche.
Diebesgesindel, Halsabschneider, aber, gute Gärtner.
„Und, Peter?“.
„Alles gut, Herr“.
„Geht es noch kürzer?“.
„Alles gut“.
Jeden Tag der gleiche Scherz dieses maulfaulen Subjektes.
Peters Mutter Marie war ihm in jungen Jahren gut bekannt gewesen, wahrhaftig war sie eine Schönheit gewesen, mit langem, hellblonden Haaren, tiefblauen, ungewöhnlich großen Augen und einem Lachen, das Steine erweichen konnte. Einer Nase, deren Spitzheit ihre ganze Fröhlichkeit und Keckheit zum Ausdruck brachte. Breite Hüften, ein Becken, zum darin Versinken. Eine Brandenburgerin wie aus dem Bilderbuch. Hm, wie hatte die immer gut geduftet, nach Frau irgendwie, sanft, weich,
Frau.
Durch den langen Krieg hatte er sie aus den Augen verloren und als er nach den sieben elenden Jahren Feldzug nach Potsdam zurückgekehrt war, hatte sie schon lange einen Anderen geehelicht. Einen ganz dummen Menschen, ein Stotterer.
Ma…Ma…..Ma….rieee.
Am liebsten hätte er den Wicht einfach niedergehauen, aber seltsam, er konnte es nicht, weil Marie den Stottermann liebte.
Vor drei Jahren dann war sie unerwartet mit dem Peter gekommen, todkrank, am Ende ihrer Kräfte. Aschfahl, eingefallen die Wangen, die Augen, das Haar ohne Glanz. Mit mir geht es zu Ende hatte sie gesagt, ein Fieber, sie wollte nicht sagen, was genau. Er solle sich keine Sorgen um sie machen, nach all den Jahren eh nicht mehr. Der Mann war ihr davon, mit einer Anderen, kaum das sie krank geworden und nicht mehr für sein Auskommen hatte arbeiten können. Nein, sie wollte nicht hadern, nicht jammern, ein paar schöne Jahre hatte sie denn doch gehabt. Eine Bitte nur habe sie, eingedenk ihrer alten Liebe. Den Peter sollte er doch bitte zu sich nehmen, trotz seines erwachsenen Alters sei der immer noch ein Kind. Ihn einmal genauer betrachten solle er ihn, wie ähnlich er ihm doch wäre.
Tatsächlich war da vieles was er kannte. Die hohe Stirne, die großen blauen Augen, die angewachsenen Ohrläppchen, der leicht schiefe, nach unten gewandte Mund. Die spitze, große Nase. Die sieben Falten über und unter den Augen.
Hatte er nicht genauso ausgesehen in genau seinem Alter?
Die Marie hatte er nicht aufhalten können, sie wollte nicht dableiben, zu gefährlich wäre dies für seinen Leib und sein Leben. Traurig hatte er sie ziehen lassen.
Kaum einen Monat später war sie tot und der Peter nach der einsamen Beerdigung der schönen Mutter einer der königlichen Hofgärtner.
„Sollen wir die Läden vor den Reben heute Abend schließen? Das Wetter verheißt nichts Gutes, womöglich kommt ein Gewitter, Hagel“.
„Ja. Ja Peter, macht da so“.
Peter verbeugte sich tief vor ihm.
„Lass das“.
„Gut“.
Auch Friedrich war heute nicht nach reden. Auch nicht nach zuhören. Es war schlicht zu heiß dafür.
Schwerfällig stolperte er weiter.
Die letzten beiden Terrassen. Noch einmal sechzig dieser verfluchten flachen Stufen.
Ganz schwindelig wurde ihm vor Augen. Er zog seine Taschenuhr heraus. Schweiß fiel aufs Glas, die Hand zitterte leicht. Wasser stand ihm auch in den Augen, er konnte kaum das fein gearbeitete Ziffernblatt sehen, geschweige denn die Zeiger.
Er hielt sich die Taschenuhr ganz dicht vor die Augen. Kniff das Linke zu.
Beinahe schon neun Uhr.
In keinem Fall durfte er zu spät kommen. Es wäre das erste Mal in den letzten fünf Jahren. So eilig er konnte, schlurfte er weiter, zählte jeden Schritt, jede Stufe, kam immer weiter nach rechts, bemerkte es, als er das dichte Blattwerk der Reben striff, zwang sich wieder in die Mitte der Treppe zurück.
Dreißig Stufen noch, fünfundzwanzig, zwanzig, dann wäre er auf der obersten Terrasse und für dieses Mal das Leiden einmal mehr vorbei.
Herrgott, Jesus, früher war er doch nie so ein Jammerlappen gewesen. Jetzt fluchte er schon beim Herrgott und bei Jesus. So weit war es mit ihm gekommen.
Das Rondell in der Mitte des Schlosses kam immer näher, die grüne Kuppel geriet ihm außer Blick, dafür waren die weißen, oben in einem Rundbogen endenden Fenstertüren besser zu sehen, wie vertraute alte Freunde, die ihm freundlich zuwinkten..
Seit fünf Jahren erstieg er jeden Tag diese sechs Terrassen, fast zweitausend Mal eine jede. Nie zuvor war ihm dies so schwer gefallen, wie heute. Außer gestern.
Wenn es doch endlich, endlich vorbei wäre.
Geschworen hatte er es länger durchzuhalten als alle Anderen. Nicht so einfach den Dienst zu quittieren, sich in die Gruft davon zu machen wie die feinen Herren Diplomaten wie der Graf von Finkenstein, die Freunde wie der Marquis von Argnes oder die arroganten Herren Generäle wie der alte Husarengeneral von Zieten oder der von Winterfeldt. So was gehörte sich doch nicht, einfach so weg zu sterben oder sich erschiessen zu lassen, bevor der König tot war.
Alle waren sie vor ihrem König gegangen und hatten ihn einsam zurückgelassen.
Friedrich jubilierte innerlich, als er endlich die oberste Terrasse erreicht hatte. Still stand er um wieder Luft zu bekommen, lange, von einem aufs andere Bein wechselnd, der Schmerzen wegen. Ha! So ganz zum alten Eisen musste er sich noch nicht geben. Alle einhundertundachtzig Stufen und kaum drei Pausen. Es ging doch, was eigentlich haderte er in einem fort?
Das mit dem Schweißtüchlein gab er endgültig auf. Sollte die warme Brühe eben weiter in seinen klammen Kragen laufen. Er suchte Halt an seinem Stock. Nur einen Moment verweilen, auf ein Stücklein Kühlung bringenden Wind warten, hoffen. Wenn erst die Sterne vor seinen Augen verschwunden waren, würde er den einfachen, letzten Rest des Weges auch noch schaffen.
Mühsam fummelte er die Taschenuhr erneut aus seiner Westentasche, kurz vor neun.
Fünf Minuten hatte er noch bis zum Grab der beiden Windspiele. Sein Gang geriet ihm nicht gleichmäßig, so sehr er sich auch mühte. Was sollten sie von ihm denken. Wenn irgendwer aus den Fenstern des rechten Flügels herausblickte, konnte er glauben, dass er schon am frühen Morgen getrunken hätte.
Am liebsten wäre er zu Boden gesunken als er endlich an der kleinen, hellen Grabplatte ankam. Biche und Alkmene stand darauf eingraviert. Feine Hunde waren das gewesen, Windspiele, so langbeinig wie klug. Und ungeheuer wertvoll. Wie ungerecht von der Natur, daß sie gerade solchen wundervollen Geschöpfen nur so wenige Jahre gönnte.
Von der Garnisonskirche her schlug es neun.
Er straffte sich, überprüfte sein Äußeres. Die Jacke, das Wams, die Kniebundhosen, die langen Socken. Die Schuhe, wie ärgerlich, ganz staubig waren die. Nach all dem Gelaufe, kein Wunder. Er wischte die Spitzen an seinen Hosen ab.
Gleich würde er kommen, der Alte. Sein König Friedrich von Preußen, sein Herr.
Wie jeden Tag um neun. Den schwarzen Dreispitz mit dem weißen Federrand und der schwarzen Kokarde auf dem kahlen, eingefallenen Schädel, den tiefblauen Rock seines ersten Batallions Garde um den ausgemergelten Körper schlackernd, den Waffenrock, den er selbst so lange getragen hatte und noch trug, seit Jahren auch ihm schon viel zu weit.
Den hellbraunen Stock würde er bei sich haben, sich darauf stützen, dass er sich unter seinem Gewicht sogar ein wenig bog.
Eine schwarze Schärpe um den Leib würde seine Majestät haben, bis zum Boden herab. Speckig das alles, abgewetzt von endlosen Jahren der Benutzung, nach altem Menschen riechend, nach tausend und mehr Tabakflecken vom ewigen Schnupfen.
Der Alte wusch sich schon seit langem nicht mehr, scheute auch jeden Barbier.
Ein Zerrbild einstiger Größe war er, gichtig, vornübergebeugt, mit einem und einem halben und einem viertel Bein im Grabe.
Vierundsiebzig war der alte Fritz, so wie er selbst.
Durch diesen Friedrich hatte er alles verloren und manches gewonnen. Seine Frau, seine Söhne, seine einzige Tochter waren auf seinem kleinen Hof in Pommern geblieben auf den Bajonetten der plündernden Russen.
Sein linker Arm und sein rechtes Bein waren in der Schlacht in Kunersdorf geblieben, auch vom Russen geholt. Bis zum heutigen Tage wusste er nicht genau, ob das, was sein Herrscher glaubte, wahr war, oder nicht. Die Russen hatten auf die Garde gefeuert, mit allen Geschützen und sein Arm und sein Bein hatten dem König das Leben erhalten, so jedenfalls glaubte und erzählte er dies einem jeden.
Der da, der hat ein Bein und einen Arm für mein Leben gegeben, ist das Treue, meine Herren? Und denkt euch nur, er heißt Friedrich, so wie ich.
Zum Dank dafür hatte er ihm, seinen Namensvettern, vor dreiundzwanzig Jahren, nach dem glücklichen Ende des Krieges zu seinem Obergärtner für den Weinberg gemacht. Um für sein Auskommen zu sorgen und ihn, den alten Kameraden, wohl einem Glücksbringer gleich, immer um sich zu haben.
Dabei war er eigentlich nur ein Kartoffelbauer aus dem Oderbruch. Hatte gehofft, nach dem elenden Krieg wieder heimgehen zu dürfen.
Obergärtner, ohne Ahnung vom Metier, ohne Arm, ohne Bein. Eine Horde Helfer hatte er sich holen dürfen dafür, auf diese Weise viele Versprechen einlösen können.
Ganz so schlecht war des Königs Idee für ihn nicht gewesen. Kein Hunger mehr, keine Sorgen, seit vielen Jahren.
Gleich würde der Alte wie jeden Tag herauskommen, ihn verwundert anblinzeln, als sähe er ihn das erste Mal. Dann würde er ihn erkennen, grob die Richtung auf ihn nehmen, lächeln. Wenn er keine Schmerzen hatte.
Tack, tack, würde er langsam näher kommen.
„Traurig, nicht wahr, Friedrich“, würde er sagen und mit dem Stock auf die Grabplatte der Windspiele weisen.
„Ja, Sire“, würde er antworten.
„Gute Hunde waren das, so gelehrig, allen voran Alkmene. Einmal etwas gezeigt, schon konnte sie es. Klug wie ein Mensch“.
Und, was macht der Arm? Was das Bein?
„Und, was macht der Arm, was das Bein?“.
Auch diese Frage kam jeden Tag, jeden Tag. Jeden Tag. Im gleichen Tonfall.
Es ist in Ordnung, Sire, ab und an, nur wenn das Wetter wechselt, merk ichs.
„Gut….gut, mein Treuer. Weißt du, Friedrich, an jenem Tag in Kunersdorf magst du dein Bein, deinen Arm verloren haben, mich aber, das Haus Brandenburg, Preussen, unser aller Zukunft aber hast du gerettet“.
In all den Jahren hatte er sich daran gewöhnt. Der König meinte es eben gut mit ihm.
„Ja , Sire“.
In den letzten fünf Jahren war der große König völlig heruntergekommen, verwahrlost, stinkend wie der geringste seiner Untertanen. Er konnte nicht mehr, mochte nicht mehr, hatte die Kraft, den Willen nicht mehr, auch nur Obacht auf sich selbst zu geben. Er hatte alles erreicht, Schlesien für Preussen gesichert, die Gegner in die Schranken gewiesen, sein Land aufgebaut. Eine Großmacht geschaffen.
„Und, Friedrich, was macht der Arm, was das Bein?“.
Er würde zwei Mal danach fragen. Es gab ihm schon lange nicht mehr zu denken, dass er dies tat.
„Gut, Sire, dem Arm und dem Bein geht es gut. Nur wenn das Wetter wechselt, dann merk ich s ein wenig“.
„Gut. Gut, mein treuer Friedrich“.
Der König war ebenso alt wie er, ebenso müde wie er, konnte, wie es aussah, ebenso wenig sterben wie er.
„Und Friedrich, die Reben, gedeihen sie?“.
„Ja, Sire“, würde er sagen, egal, wie es um die Trauben stand.
„Gut, mein Treuer“, würde der König sagen, „gut“.
„Ja, Sire“.
„Danke, mon ami, für alles“.
Und schon im Umwenden, dem rechten Trakt des Schlossen zugewandt, einen letzten, sehnsüchtigen Blick seiner für ihn schon vorbereiteten Gruft neben der seiner Windspiele zuwerfend:
„Ich bin so müde, Gardist. Müde“.
„Ja, Sire“, würde er antworten und die immer gleiche Audienz würde enden, wenn die Glocke der Garnisonskirche ein Viertel nach Neun schlug.
Er liebte seinen König von Herzen. Ein feiner Kerl war das.
Fünfzehn Minuten jeden Tag, seit dreiundzwanzig Jahren hatte er ihn gesehen. Das waren bald hundert Tage im Gesamten. Er konnte sich glücklich schätzen den guten König so lange für sich ganz allein gehabt zu haben.
Es war der achtzehnte August des Jahres 1786.
Die Uhr der nahen Garnisonskirche schlug ein Viertel.
Friedrich zog seine Taschenuhr heraus. Es stimmte. Viertel nach Neun.
Er wartete noch weitere fünf Minuten.
Friedrich, der König, war nicht gekommen, Friedrich, den Gärtner zu treffen.
Da gab es nichts mehr zu deuten. So war der Gang der Dinge.
Endlich.
Die dicke Köchin Elsbeth wurde auserkoren es dem alten Friedrich schonend beizubringen, dass sein König gestorben war. Um zwei Uhr dieses Morgens, in seinem Sessel sitzend, die Stiefel an den Füssen hatte er den Geist aufgegeben.
Noch wusste es kaum einer.
Die dicke Elsbeth mochte der alte Gardist, so viel war sicher. Wenn überhaupt, würde sie es sein, die es dem senilen Alten sagen konnte, ohne dass er gleich tot umfiel.
„Friedrich“.
Der Alte war auf der kleinen Bank in der Nähe des Hundegrabes eingeschlafen, kein Wunder, bei der Hitze.
Die machte selbst ihr zu schaffen, trotz ihrer heißen Pfannen.
„Friedrich, wach auf, ich muss dir etwas Wichtiges sagen“.
Vielleicht sollte sie ihn besser schlafen lassen, den Alten.
Später, wenn er ausgeschlafen hatte, würde er es auch besser begreifen, was geschehen war. Es besser verkraften.
Sie prüfte den Schatten. Bis die Sonne herumkam, konnte sie ihn hier schlafen lassen. Sie lächelte. Wie zufrieden der alte Haudegen aussah. Da war nichts von der Knurrigkeit, die er sonst so gern zur Schau stellte. All das Gerede, dass früher alles besser gewesen war, das Gezeter über den Frühling, den Sommer, den Herbst, den Winter. An jedem und allem hatte der was zu nörgeln gehabt.
Und nun sah er friedlich aus wie ein Kind im Schoß der Mutter.
Sie wollte sich schon umwenden, ihrer Küche zu, stutzte.
Dann sah sie es, wusste sie es.
Friedrich war tot. Lächelte. Hatte es geschafft.
Er, der Bauer, der Gardesoldat, der Gärtner hatte treu seinem König gedient, länger als jeder Andere. So wie er es sich gewünscht hatte.
Sogar jetzt war er seinem König gefolgt, in den Himmel, in die Hölle, ins Nichts, wohin auch immer.
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